Muriel Spark Joy 5: „The Bachelors“

img_20200229_190520757Zurzeit lese ich alle 22 Romane von Muriel Spark (1918-2006) in chronologischer Reihenfolge und versuche, ihrer Faszination auf den Grund zu gehen. Die abgebildete und von mir ggf. zitierte Ausgabe ist die Polygon-Gesamtausgabe, Edinburgh 2017.

Titel: The Bachelors (1960, dt.: Junggesellen, Ü: Elisabeth Schnack, Diogenes 1961)

Was passiert: Eine Gruppe West-Londoner Junggesellen aus dem Milieu möblierter Zimmer und prekärer Angestelltenverhältnisse wird in den Betrugs- und Fälschungsfall um ein spiritualistisches Medium verwickelt, Patrick Seton. Seton soll einen Brief gefälscht haben, um Geld von einer Anhängerin zu veruntreuen, und in seinen bevorstehenden Prozess ist die eine oder andere etwas ältere Verwandte oder Bekannte der Junggesellen verwickelt. Außerdem plant Seton womöglich einen Mord. Séancen finden statt, Briefe werden entwendet und wieder aufgefunden, leutselige Polizisten mit großen Händen und breiten Schultern machen ihre Arbeit mehr schlecht als recht, ein windiger Pfarrer hat seinen Glauben verloren und ein windiger Arzt war womöglich nie einer.

Was ist gut: Ach, einfach alles. Es gibt tatsächlich eine Szene, in der einer der Junggesellen sich vor seiner Tante, die ihn zur Aussage für den Angeklagten bewegen will, in seinem Herrenclub vor ihr hinter einem Vorhang versteckt. Aus meiner Sicht eine Anspielung auf P.G. Wodehouse und seine nichtsnutzigen Clubdrohnen mit ihrer pathologischen Angst vor ihren autoritären Tanten (Wodehouse, großer Chronist fragiler Männlichkeit). Aber Spark hebt das das auf eine Weise ins Absurde, die in dem Moment wirkt, als hätte sie das ganze Buch daraufhin geschrieben:

Marlene tripped along the passage and into the library. The room appeared to be unoccupied. A thin and feeble little cloud of cigarette smoke proceeded from the join of the window curtains. Marlene observed the bulge where Tim had pulled a chair behind the curtain to console his vigil, and made straight for it.

‚Tim, you are wasting my time.‘ (190)

Anders als Wodehouse braucht sie hier so gut wie keine ironischen Formulierungen oder eskalierende Übertreibungen. Ihr reicht die faktische Beschreibung des Zigarettenrauchs (‚thin and feeble little cloud‘) um uns gegen Ende des Buches noch ein zusammenfassendes Psychogramm von Tim zu liefern; und jede Komik entsteht allein dadurch, dass Tim, nachdem wir ihn eine Seite vorher noch bei seiner heroischen Flucht in die Bibliothek beobachtet und mitgefiebert haben (denn er scheint im erzählerischen Recht), sich nun absurderweise einen Stuhl hinter den Vorhang gestellt hat, ‚to console his vigil‘. Diese knochentrockene Bemerkung ist das einzige an wit, was Spark sich hier erlaubt. Und im Grunde in der Nussschale ihr Menschen- oder besser gesagt Figurenbild: Ihre Protagonisten neigen durch Impulsivität oder Phlegma zu irrationalen Entscheidungen (etwa, sich vor einem unangenehmen Gespräch in der Bibliothek verstehen), die sie dann durch noch irrationaleres Verhalten (etwa, einen Versteckvorhang durch einen Stuhl ausbeulen, aus Bequemlichkeit) unterlaufen. Interessant wird das dadurch, dass Irrationalität hier eine ganz flüchtige Kategorie ist und ganz offenbar keine, die Spark interessiert. Die Motivation ihrer Figuren ist insgesamt interessant und hat nichts mit dem zu tun, was beispielsweise in klassischen Schreibseminaren oder Drehbuchschulen gelehrt wird, wo gern vom want und vom need einer Figur die Rede ist. Sparks Figuren haben derlei nicht, sie gehen alle den Weg des geringsten Widerstandes, oder den, den sie dafür halten. Sie lernen nichts. Und dadurch zeichnet sie ein Gesellschaftsbild, das merkwürdig realistisch wirkt.

Gut sind natürlich außerdem die winzigen Beobachtungen, zu denen man manchmal Seiten später zurückkehrt, weil sie in ein paar wenigen Worten eine Welt an- oder aufgerissen haben. Der Junggeselle, der zwar Sex möchte, aber keine feste Bindung und keinen längeren Aufenthalt seiner Freundin, und darum isst er vorher Zwiebeln, damit ihr sein Atem auf die Dauer, aber nicht auf Anhieb unerträglich wird. Bizarr, aber vorstellbar. Oder, ganz nebenbei, wenn bei einer Séance der betrügerische Spiritualist Patrick Seton und die ihn beschuldigende Witwe Freda Flowers einander über den Weg laufen, und Spark schreibt:

Patrick ignored the widow, Freda Flower, exaltedly, as enemies do in church; but she glanced at him nervously. (32)

Dieses „exaltierte“ oder, noch schöner, „überschwängliche“ Ignorieren, „wie Feinde es in der Kirche tun“, ist eine von diesen mitfließenden Bemerkungen/Beobachtungen, auf die ich in Büchern anderer Autor*innen oft vergeblich warte. Ich weiß sofort, aus welcher Welt diese Figuren kommen, aber auch, als Teil welcher Welt und welcher Referenzrahmen die Autorin sich sieht und versteht: die Kirche spielt bei ihr immer wieder eine Rolle als Paradoxon an sich, als freiwillige Zwangsgemeinschaft (wo man dann, siehe oben, eben auch ‚enemies‘ hat wie früher in der Schule oder heute im Mehrparteienhaus), als Ort des Glaubens und der Zweifel, der Tradition und des Neuanfangs.

Was ist nicht so gut: Ich kann es nicht beschreiben, aber: mit keinem Spark-Buch habe ich so sehr gekämpft wie mit diesem. Insgesamt habe ich (früher und heute, auch wenn wir hier erst beim 5. sind) vielleicht ein Dutzend ihrer Romane gelesen, aber immer mit Vergnügen, schnell, fast hastig, oder, wie mein Freund Markus sagen würde: auf Zug. Bei The Bachelors bin ich, egal zu welcher Tageszeit und an welchem Ort, alle fünf bis zehn Seiten eingeschlafen. Bei diesem Buch hat mich eine Müdigkeit überfallen, die fast magisch, elementar körperlich und unwiderstehlich war, sodass ich vier Monate gebraucht habe, um das Buch zu lesen. Das liegt zum Teil vielleicht daran, dass ich im gleichen Zeitraum mein eigenes aktuelles Buch in der Rohfassung beendet habe und dabei zum ersten Mal an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gegangen bin; zum anderen aber doch auch daran, dass dieses Buch einen durch die Gleichförmigkeit des Erzählrhythmus‘ und die Ähnlichkeit der Figuren in eine Art Trance-Zustand versetzt. Was, da Trancezustände im Buch eine große und wichtige Rolle spielen, genial oder plump genial wäre, wenn die Autorin es so beabsichtigt hätte. Dennoch, ganz ehrlich: The Bachelors ist in jedem Detail faszinierend und begeisternd, aber die Summe seiner Teile ist auf geradezu erhabene (exaltierte) Weise langweilig.

Was lernen wir über Muriel Spark: Sie nennt London gleich im ersten Satz „the great city of bachelors“, und es scheint etwas an diesem Menschenschlag zu sein, das sie anzieht, rührt, und was sie zugleich karikiert: Männer, die man heute vielleicht Dauersingles nennen würden, zu meiner Kindheit noch „Hagestolze“, und die sich allein dadurch außerhalb der Gesellschaft stellen, dass sie sich gegen die Ehe entscheiden, aber auf viel improvisiertere, selbst erfundene Weise, als ledige Frauen im Großbritannien der 1950er/60er Jahre es womöglich getan haben: weil es für sie, die Bachelors, keine klaren Rollenvorbilder gibt, nicht wie für Frauen ’spinsters‘ oder ähnliche, seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters tolerierte und heimlich mitunter bewunderte ehelose Lebensentwürfe mit traditionell dafür vorgesehenen Berufen (Lehrerinnen, Bibliothekarinnen, und so weiter; Personal, das bei Spark auch immer wieder vorkommt). Spark mag oder beschreibt gern alle Menschen, die sich außerhalb von Konventionen eigene Konventionen schaffen, und die Beschreibung der Einkaufsrituale und der Kochgewohnheiten von Junggesellen gehört zum Liebevollsten, was ich von ihr gelesen habe.

M*S*J: 9,5/10