Zurzeit lese ich alle 22 Romane von Muriel Spark (1918-2006) in chronologischer Reihenfolge und versuche, ihrer Faszination auf den Grund zu gehen. Die abgebildete und von mir ggf. zitierte Ausgabe ist die Polygon-Gesamtausgabe, Edinburgh 2017.
Vor gut einem Jahr hatte ich den Mut, Hanna Engelmeier und Kathrin Passig ein Thema vorzuschlagen für ihre Veranstaltung „Super Duper“, die im Juni 2020 in Berlin stattfinden sollte (Corona-Imperfekt). Bei „Super Duper“ sollte es (und soll es, 2021!) darum gehen, wie es ist, warum es ist und was es ist, wenn man Dinge besonders super findet: also eine im weitesten Sinne kulturwissenschaftliche Veranstaltung für Fachleute und Laien über die positive Seite von Kritik. Das Thema, das ich Hanna mailte, lautete so in etwa: Der Zauber, Dinge, die man ganz toll findet, nicht zuende zu schauen, nicht zuende zu lesen, und, wenn es sich um Musik handelt, vielleicht nicht einmal zuende zu hören.
Ich habe dieses Phänomen bei mir schon recht oft erlebt. „Crazy Ex-Girlfriend“ mit Rachel Bloom ist die mir psychologisch und von der künstlerischen Ambition (Song-Parodien, billige Kulissen, jede Menge Füll-Subplots und idealisierte Zwischenmenschlichkeit) allerliebste Fernsehserie. Ich habe sie mehrfach gesehen, aber nie bis zum Ende. Ich habe „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust mit fasziniertem Abscheu und großer Begeisterung selbst über die wirrsten Monologe hinweg nicht aus der Hand legen können. Aber etwa zur Hälfte des siebten Bandes, mitten in seinen verstiegensten Spekulationen über ein völlig bizarr ausgedachtes Männerbordell, habe ich es aus der Hand gelegt und nicht wieder aufgeschlagen. Ich habe Kurosawas „Die sieben Samurai“ nie zuende geschaut, obwohl mich noch die ereignislosesten Szenen interessieren wie nichts anderes.
In meinem Themenvorschlag habe ich ein paar Thesen dazu fantasiert. Naheliegend ist die Vermutung, man würde sich etwas aufheben wollen, sich das Gefühl bewahren, dieses geliebte kulturelle Artefakt wäre eben noch nicht zuende, man hätte noch Vorrat vom Guten, für dunkle, noch dunklere Stunden.
Und schlägt man durchs nicht Beenden nicht auch der kapitalistischen Verwertungslogik von Kultur ein Schnippchen, und sei es nur symbolisch? Wenn etwas zuende ist, brauche ich etwas Neues; wenn ich es nicht beende, habe ich ewig davon. Vielleicht ist es aber sogar so etwas wie ein Eingriff der Konsumierenden in die scheinbare künstlerische Autonomie: Indem ich „Crazy Ex-Girlfriend“, „Die sieben Samurai“ und „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nicht beende, verhindere ich, was mich betrifft, dass Bloom, Kurosawa und Proust ihre Vision vollenden können, ich behalte sozusagen in meinem Kopf die Macht über ihr Projekt. Wie gesagt, Thesen. Ich hoffe so, dass „Super Duper“ stattfindet, damit ich endlich lerne, eine digitale Präsentation zu machen und wieder klar zu denken.
„The Mandelbaum Gate“ von Muriel Spark habe ich nicht zuende gelesen. Es ist das bisher schönste und überraschenste Buch, das ich von ihr gelesen habe. Müsste ich nicht eigentlich danach gieren, die letzten 40 Seiten auch noch zu verschlingen?
Der Roman ist mit fast 380 Seiten erstaunlich lang, etwa so lang wie „The Prime of Miss Jean Brodie“, „The Girls of Slender Means“ und „The Bachelors“ zusammen. Sie schrieb ihn 1964 in dem Büro, das der Chefredakteur des „New Yorker“ ihr in der Redaktion eingerichtet hatte. Im „New York“ erschien Sparks Klassiker „The Prime of Miss Jean Brodie“ zuerst, und Wallace Shawn hatte daraufhin die Idee, Sparks einen Platz in der Redaktion anzubieten. Sie ließ ihren Büroraum (im Gegensatz zu allen anderen) erstmal in leuchtenden Farben streichen, pflegte einen freundschaftlich-distanzierten Umgang zu den anderen beim „New Yorker“ und, so erzählt ihr Biograf und Freund Alan Taylor in einer typisch paradoxen und doch sofort verständlichen, fast Sparkschen Formulierung: Sie ging auf viele Partys und sagte sehr viele ab.
Und, auch das eine Information von Taylor in einem Gespräch mit Ali Smith, Spark nahm sich ausdrücklich vor, einen langen Roman zu schreiben, weil sie nicht den Eindruck entstehen lassen wollte, sie könnte nur kurze schreiben. Wenn man gesehen hat, wie unfassbar pragmatisch Spark über ihr Schreiben spricht (in diesem Video, auf das mich, damit Kreise sich schließen, nicht zuletzt Hanna Engelmeier aufmerksam gemacht hat), dann glaube ich sofort, dass sie sich eines Tages mit den Worten hingesetzt hat: Nun schreibe ich also einen langen Roman, bis später.
Das Ergebnis ist für mich kaum begreiflich. Fast alle anderen Romane Sparks leben von der Verdichtung: dadurch, wie knapp Spark Figuren und Situationen beschreibt, und wie kurz und schlüssig sie Schlussfolgerungen formuliert, denen man folgen kann oder nicht, entsteht eine wunderbare Härte, die eher handwerklich als emotional ist. Was passiert nun, wenn Spark sich 380 Seiten für eine Geschichte lässt, die sie voriges Jahr auf 110 erzählt hätte? Fluffy Spark, ist es denkbar?
Titel: The Mandelbaum Gate (1965, dt.: Das Mandelbaum-Tor, Ü: Hans Wollschläger, Rowohlt, 1967)
Was passiert: Freddy, ein etwas planloser und sich selbst überschätzender mittelalter Mitarbeiter des britischen Konsulats in Jerusalem gerät in oder verursacht eine Eskalation, als er sich in die Pläne einer zum Katholizismus konvertierten Pilgerin einmischt, die zu den christlichen Stätten in Jordanien reisen möchte. Das Mandelbaum-Tor ist zu jener Zeit, Anfang der Sechziger, der Grenzübergang zwischen dem israelischen Teil und dem jordanischen Teil von Jerusalem. Fred, der Konsulatsangestellte, durchquert es regelmäßig, weil er jedes Wochenende seine weltfremden englischen Freunde in Jordanien besucht. Barbara, die Pilgerin, muss allerdings verschleiern, dass sie aus einer jüdischen Familie stammt, die jordanischen Behörden würden sie sonst sofort verhaften. Mit Hilfe des weltläufigen arabischen Geschäftsmannes Joe Ramdez und dessen kluger Tochter Suzi gelingt es Freddy, Barbara durch Jordanien zu schmuggeln und sie dennoch in Gefahr zu bringen, einen Spionagering auffliegen zu lassen und durch seine Begeisterung für dieses absorbierende Abenteuer in seiner Heimat London einen Mord zu verursachen oder nicht zu verhindern. Barbara, die Pilgerin, wartet derweil auf einen Bescheid aus Rom, denn nur, wenn die geschiedene Ehe ihres Verlobten, Archäologe in Jordanien, vom hl. Stuhl annulliert wird, kann sie ihn heiraten. Pläne, von denen ihre Chefin und Freundin Ricky daheim in England nichts weiß, die aber durch eine Indiskretion Freddys auffliegen, weshalb Ricky ebenfalls in Jerusalem, Jordanien und Palästina auftaucht. Jesus, möchte man ausrufen. Und all das ist chronologisch kunstvoll ineinander vorschoben: die erzählte Zeit bewegt sich vor und zurück, sie überlagert sich, ohne, dass auch nur eine Zeile lang Verwirrung entsteht.
Was ist gut: Es ist banal, aber tatsächlich haben die Figuren viel mehr Raum zum Atmen als sonst bei Spark. Den Platz nutzen sie tatsächlich für sehr viel Körperliches: Sie haben Schmerzen und sind krank, sie trinken und essen, sie haben Sex und leiden unter der Hitze, und Spark lässt ihnen dabei Zeit, statt derlei körperliche Tätigkeiten und Empfindungen nur hier und da als einzelne Vignetten aufblitzen zu lassen, wie sie es sonst tut. Dies gibt den Figuren eine Lebendigkeit, die ihre spirituellen Herausforderungen und Questen menschlicher, nahbarer erscheinen lässt: Die Grenze, die das Mandelbaum-Tor im Titel symbolisiert und markiert, ist ein wichtiges Thema, denn Barbara ringt mit einer spirituellen Abgrenzung oder Vereinbarung ihrer jüdischen Familientradition und ihrer katholischen Sehnsucht; andere Figuren verhandeln vor dem Hintergrund jahrtausende- oder jahrhundertealter Traditionen ihren modernen islamischen Glauben oder ihr Judentum, ohne, würde ich sagen, dass Spark je in religiöse oder kulturelle Stereotype verfällt oder gar rassistische Klischees bedient. Das überlässt sie dem etwas zu naiven und spirituell hohlen Freddy, der hin und wieder hochproblematische Phrasen wiederkäut, Momente, in denen dann aber aus Sparks Sicht und in ihrer Darstellung eher das britische Foreign Office aus ihm zu sprechen scheint und weniger das selbst in Freddys Alter noch formbare Individuum. Gabriel Josipovici schreibt in seinem Vorwort zur Polygon-Ausgabe des Romans von den „reservations“, also Vorbehalten, die Spark gegenüber ihren Figuren behält. Das finde ich eine sehr gelungene Formulierung, denn man kann Leser*innen Figuren schaffen, deren Erlebnissen, Empfindungen und Gedanken sie gerne folgen, ohne, dass man sich ihnen als „Identifikationsfiguren“ verschreiben muss.
Bei der spirituellen und kulturellen Ernsthaftigkeit hat das Buch etwas ganz Leichtes: Spark hat offensichtlich eine große Liebe zur Landschaft Palästinas, Jordaniens und Israels, sie führt einen mühelos durch die Topographie, sie kann die Wüste und ihre Vegetation mit ebenso wenigen Strichen plastisch machen wie boarding rooms in der Londoner Peripherie oder Esszimmer in heruntergekommenen Herrenhäusern in ihren anderen Romanen. Eine lange Sequenz in einer Art besetztem Haus, in dem arabische Jungendliche feiern, wohnen und diskutieren, gehört zum Schönsten, was ich von ihr gelesen habe. Auch die Hitze liegt ihr als schreiberisches Element: ihre sonst so klare Sprache kriegt hier immer wieder was Flirrendes, Dialoge und Situationen bewegen sich wie die Luft über heißem Asphalt. Außerdem gibt es zwei oder drei sehr schöne und überraschende Sex-Paarungen. Spark hat überhaupt ein liebevolles und unaufgeregtes Interesse an Sex als Text, das ich hier besonders sympathisch und liebenswert finde (Spoiler: Es ist nicht immer so bei ihr, „Not to Be Disturbed“, einige Jahre später, ist in der Hinsicht leider genau das, disturbing).
Wenn man so will, ist Barbara, Lehrerin an einer Mädchenschule in England, sowas wie die antifaschistische Miss Brodie: ebenso festgesetzt in ihren äußeren Lebensumständen, aber statt von Personenkult und Intrige fasziniert zu sein wie Miss Brodie, ist sie auf der Suche nach ganz modernen Kompliziertheiten wie Nähe und Distanz und einer Selbstverwirklichung, die nicht auf Kosten anderer geht.
Und, nicht zuletzt: Es ist ein Spionageroman, der das Genre ernst nimmt, ohne auf seine Schwachstellen reinzufallen.
Was ist nicht so gut: Ich liebe wirklich alles an diesem Buch, und ich glaube, ich lebe unter dem Eindruck, dieses Gefühl hielte umso länger an, je länger ich das Buch nicht zuende lese. Vielleicht ist es aber auch Erschöpfung, und das Buch ist genau 40 Seiten zu lang? So, als wäre man zulange in der gleißenden Sonne unterwegs gewesen?
Was lernen wir über Muriel Spark: Sie konnte auch lange Romane schreiben.
M*S*J: 10/10