Notizen zu zwei Parfüms: Wie die Zukunft in der Vergangenheit gerochen hat, wie die Eltern abends weggegangen sind, und warum die Siebziger Jahre voller Gespenster sind
Recherchieren ist Chaos, finde ich. Selbst für journalistische Texte: Alles könnte interessant und wichtig sein, oder auch nicht. Kein Thema ist so klar umrissen, dass man ohne willkürliche Entscheidungen sagen könnte: das gehört dazu, das bringt mich und die Leser*innen weiter, und jenes nicht. Und dann erst bei einem fiktionalen Text.
Nächstes Jahr schreibe ich einen Roman, der in den Siebziger Jahren spielt. Dafür muss ich zwei Dinge wissen, also recherchieren: Erstens, wie entwirft, plant und baut man ein Hochhaus, und zweitens, WIE WAR DAS DAMALS. Das erste ist vergleichsweise einfach. Ich fange an, trotz meiner bekannten Schwierigkeiten, mich mit Architekt*innen in Verbindung zu setzen und Personen zu finden, die damals womöglich in einer Baufirma oder in einem Bauamt gearbeitet haben.
Wie aber war das damals, also alles andere, der ganze Rest? Bei „Treue Seelen“, dem Roman, den ich dieses und voriges und vorvoriges Jahr geschrieben habe, und der im Mai erscheint, war das einfach: Das Buch spielt in ein paar Wochen im Frühsommer 1986, und obwohl das Buch nicht die Geschichte eines 17-Jährigen erzählt, wie ich es damals war, ist es im Buch 1986 genauso, wie es in meiner Erinnerung war. Die erwachsenen Protagonist*innen in „Treue Seelen“ leben in meiner erinnerten Teenagerwelt, es passt gut zu ihnen. Problem gelöst.
An die Siebziger Jahre aber habe ich nur Kindheitserinnerungen, die mit der Lebenswirklichkeit von Erwachsenen nichts oder sehr indirekt zu tun haben. Nichts davon ist unmittelbar verwertbar. Also habe ich angefangen, Romane aus der Zeit zu lesen, nach passenden Fernsehserien und Filmen zu suchen. Wobei es mir nicht um ein realistisches Abbild der Siebziger geht. Noch mehr als die Achtziger sind die Siebziger für mich ein Jahrzehnt der Gespenster, ein merkwürdig auf Schwarzweiß zurückgeschaltetes Jahrzehnt zwischen den Orangetönen der späten Sechziger und dem Neonrausch der Achtziger. Gespenster im Sinne von: voller Spuren einer noch ganz gegenwärtigen Vergangenheit, aber im Nachhinein auch voller Spuren einer Hoffnung auf bessere Leben. Die Hauntology von „Demokratie wagen“ und dem Kniefall von Warschau. Und, gespenstische Ästhetik: Ein Jahrzehnt, dessen Buchstützen am Anfang und am Ende die Bilder des Terrors und seiner Urheber*innen sind. Und das für mich immer auch durchzogen ist von dem, wogegen sie gewalttätig waren: dieser fest mit der Struktur der Zeit verwachsenen, verfluchten Patina aus altem NS-Personal und andauernder Borniertheit. Wobei all das schon wieder zu gedacht und zu eindimensional ist, um mir irgendwas zu nützen beim Schreiben über die Zeit.
Gerüche sind vieldimensional. Aber was und wie haben Erwachsene gerochen in den Siebziger Jahren? Jägermeister und Sechsämtertropfen und Ernte 23 und Roth-Händle kann ich heraufbeschwören oder im Supermarkt kaufen. Parfüms aber zum Beispiel leben im besten Fall davon, dass ihr Geruch eine komplexe Geschichte erzählt oder verspricht: eine Vision davon, wie die Trägerin oder der Träger sich selbst sehen, gesehen werden wollen, oder wo und wie sie sich zugehörig fühlen. Daran habe ich mich erinnert, als Julia Pühringer auf Twitter aus dem Parfumlexikon von Luca Turin und Tania Sanchez zitiert hat: mit der Warnung, man wolle gleich sehr viele Parfums kaufen, wenn man sich einmal in das Buch versenke. Damit hatte sie recht. Sobald ich mich in dem Buch festgelesen hatte (und das geht schnell, weil es neben der Kenntnisvermittlung sehr feuilletonistisch und witzig ist), wollte ich Parfüms kaufen. Zum einen, weil ich mich eingeladen fühlte durch die Beschreibungen in Welten, die jenseits meiner eigenen liegen: sie riecht bestenfalls nach Kaffee und Toast, Schafwolle und Elektronik, Pfefferminzseife und Ofengemüse. Also für mich sehr vertraut und nicht weiter interessant. Parfums aber sind interessant, weil sie mit einem Sprühstoß die mögliche Zugehörigkeit zu einer anderen Welt, das Erlangen einer anderen Zukunft versprechen. Aufgeladen durch die Zeichensysteme der Namensgebung, der Werbung und Verpackung.
Persönlich sehne ich mich offenbar nach einer sommerlichen Draußenwelt, alle von mir regelmäßig benutzten Eau de Toilettes haben eher Zitrus- und Meeresnoten als ganz klassische Männergerüche wie Leder, Tabak oder gar Moschus. Sie sind, wie ich bei Douglas sagen würde, leicht. Mit Ausnahme von einem, das ich in den letzten Jahren nur sehr sparsam und nur im Winter verwendet habe: „Vera Wang for Men“. Es scheint mir sehr schwer im Sinne von gehaltvoll, und für jemanden, der so sehr mit seiner „Männlichkeit“ hadert wie ich, im klassischen Sinne eigentlich zu männerperfümig, für mich also scheinbar mutig. Es war dann sozusagen wie ein Tafelwischen, als ich im Buch von Turin und Sanchez über „Vera Wang for Men“ unter der Überschrift „Seifiger Albtraum“ und mit der Bewertung „1 Stern“ (von 5) las: „Riecht wie etwas, das möglicherweise Bergtal heißt, und das man in die Steckdose steckt.“
Da die beiden so streng sind, fing ich an, mich für die Perfums zu interessieren, die sie mit 5 Sternen bewerten – und die für mich unmittelbar bezahlbar wären. Manche davon sind Klassiker, und zwei sprachen mich besonders an: Grey Flannel, von 1975, und Azurée, von 1969, weil ich dachte: Ah, so riechen womöglich Männer und Frauen in dem Buch, das ich schreiben will.
Manchmal habe ich nachts so Rechercheideen, mit denen ich schon am nächsten Morgen nichts mehr anfangen kann. Dann sitze ich ratlos vor PDFs, die ich heruntergeladen habe, schließe reihenweise kryptische Youtube-Tabs oder öffne drei Tage später fast peinlich berührt eine Medimops-Sendung mit einem Buch, zu dem ich zwischenzeitlich die Gedankenverbindung verloren habe: War es wirklich eine gute Idee, mir für den Achtziger-Jahre-Roman noch einmal die „Verschenktexte“ von Kristiane Allert-Wybranietz vor Augen zu führen? (Nein.)
Ähnliches erwartete ich, als die Päcken mit Grey Flannel und Azurée kamen: die Erkenntnis, dass ich sechzig Euro zum Fenster hinausgeworfen hatte, in der irrigen Annahme, ich könnte mir meine Recherche erriechen. Aber das Gegenteil war der Fall. Das Buch, von dem ich zuvor eine deutliche, aber vielleicht nicht ausreichend vage Vorstellung hatte, geriet plötzlich in Reichweite, als ich die beiden Parfüms der Siebziger Jahre untersuchte.
Über Grey Flannel schreibt Luca Turin: „Sehr wenige Männerdüfte waren einflussreicher als GF, erschienen 1975. Es ist der Halt auf halber Strecke der langen Reise, die von Fougère Royale zu Fahrenheit führt. (…) seine herausragende Eigenschaft ist die Kopfnote, in der die frischen Zitruskomponenten mit dem blättrigen Grün … auf eine Weise verheiratet wurden, dass die Fruchtsaft-Komponente der Zitrusnote komplett verschwand und nur sein Holz-Aspekt überlebte. Dieser seltsame Akkord ist ein Vorläufer des holzigen Fast-Zitrus‘ von Cool Water, nur sehr viel reichhaltiger. Was GF faszinierend macht, ist, wie die trockene Hälfte des Duftes abgerundet wird durch eine süß-kräuterige Kumarin-Note, die vollkommene Balance … herstellt. Alles in allem, und obwohl GF gelegentlich etwas krude wirken kann, ein Meisterwerk.“ Er ordnet das Parfum der Kategorie „süßes Grün“ zu.
Und augenblicklich sehe ich Korridore vor mir, in denen Männer glauben, wichtige Geschäfte zu machen, aber ihre Anzüge könnten besser sitzen. Es sind Männer, die schon gelernt haben, dass es andere Welten gibt, die ebenso wichtig sein könnten wie jene, in der sie diese Geschäfte abwickeln, aber es fühlt sich noch irreal an für sie. Sie haben keine genaue Vorstellung davon, ob sie noch Männer wären, wenn sie nicht so tun würden, als ob, und ob das wichtig wäre. Sie fürchten, wissen und hoffen, nein, möchten aber das Gegenteil festhalten. Sie suchen, wenn man so will, Halt an moosigen Holzwänden, sie suchen eine Weite und eine Freiheit, die komplett unwirklich sind, aber erfüllt von einem Licht, das der indirekten Beleuchtung in einem Restaurant mit etwas zu vielen Zimmerpflanzen und etwas zu tief abgehängter Decke ähnelt.
Tatsächlich riecht Grey Flannel nach abgehängten Decken: etwas drückend, aber mit einem Versprechen von und einem Wunsch nach Intimität. Hier geht es nicht allein um Heizkostensparen, Baby. Schatz. Und auch das Krude ist sofort da: Dieser Männer sprechen etwas zu laut und sie stehen etwas zu nah bei dir, und womöglich haben sie catch phrases, „Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Raether.“ Mein Vater hat so nicht gerochen, mein Vater hat so nicht gesprochen, das meine ich nicht. Aber wenn ich der Mann wäre, der ich heute bin, nur in den Siebzigern, nur anders? Wer weiß.
Tania Sanchez nennt Azurée eins ihrer Lieblingsparfums. Sie ordnet es der Kategorie „Zitrus-Leder“ zu und schreibt: „Azurée ist ein großes, selbstsicheres Leder von 1969 … mit etwas vom überraschend anhaltenden zitronig-holzigen Sonnenschein von Monsieur Balmain und einem weichen, staubigen, fast schmutzigen Leder-Chypre-Herz, bequem wie ein alter Arbeitshandschuh, ein Duft, der heute noch so gut ist, wie er immer war, und ungefähr so gut, wie es eben geht.“
Ich habe zwischendurch beschlossen, Azurée meiner Frau zu Weihnachten zu schenken. Weil ich dachte, es wäre schön und interessant, das gemeinsam aufzumachen und uns zu fragen, ob uns der Duft an eine Zeit erinnert, die wir beide als Grundschulkinder erlebt haben. Es war ein sanfter Schock. Azurée riecht, als würden Eltern sich feinmachen. Also, meine Frau hat das Parfum an ihre Tante erinnert, mich vage an meine Mutter, an dieses Gefühl, wenn die Eltern abends noch weggehen. Und sich vorher eben, wie es bei uns noch hieß, fein machten. In vielfachem Sinne: feine Leute spielen, spielen „I’m fine“, spielen, man gehöre selbstverständlich dazu. Mein Vater arbeitete als Beamter im Landwirtschaftsministerium, also in einer halboffiziellen Außenstelle in West-Berlin, und wenn Grüne Woche war, gingen meine Mutter und er auf, wie sie es nannten, „Empfänge“. Sie haben sich an der Ingenieurschule kennengelernt, weil das die Hochschule war, die meinem Vater mit seiner Tuchmacherlehre und meiner Mutter mit ihrem Abschluss von der Frauenoberschule offen stand. Sie sind die ersten Akademiker in ihren Familien, und Azurée hat diesen Geruch der Breite und Offenheit einer Welt, in der man sich frei bewegen kann, und in der man dennoch aufgehoben ist. Es ist ein Geruch von Zugehörigkeit, aber auch, und das fasziniert mich vor allem für eine wichtige Frauenfigur im Buch: der Geruch von Platz haben, sich Raum greifen, nicht wegzudenken sein. Er ist auf seltsame Weise herrschend: Man riecht Azurée und hat das Gefühl, man müsste, könnte, dürfte, sollte sich ergeben.
Das Parfüm ist meiner Frau aus ihrer Kindheit zu vertraut, um es selbst zu tragen. Es steht jetzt wieder auf meinem Schreibtisch. Es liegt auf der Innenseite meines Handgelenks, wie Grey Flannel, das eine links, das andere rechts. Sie vermischen sich, oder ich verwechsele sie, was richtig ist, oder was egal ist: Einer der ersten Irrtümer, mit denen Turin und Sanchez in ihrem Buch aufräumen, ist, dass es jenseits des Marketings überhaupt Frauen- und Männerdüfte gebe.
Also rieche ich mal an meiner linken, mal an meiner rechten Pulsschlagader, und ich fühle mich, als wäre ich dadurch der Art, wie man sich in den Siebziger Jahren die Zukunft gewünscht hat, deutlich näher. Nicht die Zukunft im albernen, traurigen Sinne von Flugtaxis oder Hyperloop, sondern im Sinne von: wie man sich diesen Abend, die nächste Arbeitswoche, das Leben gedacht und gewünscht hat.
Nichts hat mich je einer Sache, über die ich schreiben wollte, näher gebracht, ich bin ganz glücklich darüber. Und zugleich, ich ahne es schon, wird nichts schwerer in Worte zu fassen sein als eben genau das, der Drydown auf meinen Handgelenken, die Erinnerung an etwas, das immer schon zwei, drei Sekunden her ist, oder fünfundvierzig Jahre.
Hej, Till,
kurz vorm ersten Lesen meinerseits: Die Notification zum Beitrag kommt doch arg zerpflückt an. Siehe unten. Teilweise sind die Formatierungen sichtbar.
Vielleicht ist ein neues Plugin sinnvoll? 🙂
So long & Danke für deine Arbeit. Habe vor ein paar Wochen auf Euren Podcast-AB gesprochen. Es gab einen Piep! Keine Ahnung, ob das funktioniert hat.
Rocke auch 2021, Till!
Bye, Nic
Danke, lieber Nic, ich fürchte, das Zerschossene in der Notification lag daran, dass sich durch einen Fehler von mir in der ersten Fassung des Blogbeitrags Blöcke verschoben und Formatierungen aufgelöst hatten, ich checke das nochmal.
Die Mailbox von S&B war einige Wochen eigentlich sozusagen abgeschaltet, falls du vorher angerufen hast, schaue ich nochmal, ob ich was übersehen habe, das täte mir leid. Sonst bitte gern noch einmal anrufen, unter
0178-1547373.
Grey Flannel mag ich sehr- immer noch.
Dieses Duftes wegen habe ich einmal einen fremden Mann durch ein Kaufhaus verfolgt…