Seit 1. Januar schreibe ich jeden Tag auf Mastodon einen Fortsetzungsroman zu. Eine Science-fiction-Geschichte mit dem Arbeitstitel „Bother“. Nicht als Thread, sondern als einzelne Posts, jeden Tag 500 Zeichen. Einmal im Monat fasse ich die Posts hier zusammen. Diesmal: Februar 2023.

(32/365)
„Die andere Person ist bei Bewusstsein“, sagt Enn. „Unverletzt. Es ist ein Mensch.“
Jetzt wird ihm klar, dass er nie zuvor im Leben mehrere Tage völlig allein war, menschenlos. Ein Gefühl wie Schwindel. Dann Bedauern: Schade, dass es vorbei ist.
Hoffentlich niemand, den er kennt.
Kurz stürzen Bilder aus der anderen Welt auf ihn ein. Und die Erkenntnis: der Mensch, der tot ist, ist vielleicht tot wegen dem, der jetzt kommt.
Aus der Schleuse tritt eine alte Frau mit breiten Schultern.
(33/365)
Sie bleibt kurz stehen, nickt ihm zu und setzt sich an den Tisch mit der eingeritzten Nachricht.
„Guten Tag“, sagt er, ohne zu wissen, ob eines der beiden Wörter zutrifft. Er hat Dankbarkeit erwartet, irgendeine Emotion. Die Frau betrachtet ihre Hände. Sie sieht aus, als hätte sie jahrzehntelang körperlich hart gearbeitet.
„Ich kann euch leider nicht vorstellen“, sagt Enn. „Ich entnehme den Daten von Bord des Dingis, dass unserer Gast seinen Co-Passagier getötet hat.“
Die Frau nickt.
(34/365)
Nach einem Moment wird ihm klar, dass ihr Nicken sich nicht darauf bezieht, sie habe jemanden getötet. Hört sie Enn überhaupt?
„Nein“, sagt Enn.
Die Frau lehnt sich ins Polster der Sitzbank zurück. Sie ist soweit. Sie wartet darauf, dass er ihr etwas zu trinken, womöglich zu essen bringt.
„Wir haben leider keine Speisekarte!“, ruft er durch den Raum.
Sie hebt die Schultern: Egal.
Er bringt ihr Kaffee. Sie hält ihn am Arm fest, bis er ihrem Blick nicht länger ausweicht. Sie lächelt.
(35/365)
Er zieht den Arm weg und geht ans Fenster. Sie trinkt ihren Kaffee.
„Das Dingi ist im Frachtraum verstaut“, meldet Enn.
„Was ist sonst noch im Frachtraum?“
„Allerhand Zeug von den Raelon.“
„Kann ich mir das mal ansehen?“
„Hast du nicht andere Themen gerade?“
Er beobachtet seine Passagierin. Sie trinkt ihren Kaffee und beachtet ihn nicht.
„Kannst du mir etwas über sie sagen?“
„Eine wichtige Sache weiß ich über sie“, sagt Enn.
„Was?“, fragt er.
„Wir sollten sie schnellstens loswerden.“
(36/365)
Je länger er mit der Frau im Raum ist, desto weniger fürchtet er sich vor ihr. Er fängt an, ihr Fragen zu stellen. Woher sie kommt. Was sie dort gemacht hat. Wer ihr Mitreisender war. Wie er zu Tode gekommen ist. Was sie jetzt vorhat.
Sie schweigt und blickt auf seinen Mund, während er spricht.
„Verstehst du mich?“ Sie nickt. Es bedeutet wohl: Sie möchte nicht sprechen. Sie sieht nicht einmal aus, als wartete sie auf etwas. Sie sitzt einfach da, als hätte sie erreicht, was sie wollte.
(37/365)
Nach einer Weile zieht die Frau ein Päckchen aus ihrem Overall. Es ist ein abgegriffenes Kartenspiel. Desinteressiert schaut er in ihre Richtung, damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie er an sie rankommt. Er erwartet ein Spiel mit unbekannten Symbolen.
Aber es ist ein Kartenblatt genau wie, und hier sperrt sich alles in ihm, bevor er es denkt: auf der Erde. Wie in seiner Welt. Es zieht ihm das letzte bisschen Boden unter den Füßen weg.
Die Frau summt ein Lied und legt eine Patience.
(38/365)
Alles hier ist ihm unvertraut, jeder Gegenstand, jeder Geschmack ist ein wenig anders als in der anderen Welt, aber diese Karten sehen aus wie in Kneipen, wo er schon war. Heimweh nach etwas, das er nicht mehr kennt.
Die Patience geht langsam, die Frau schaut an den Karten vorbei. Sie summt eine Kreismelodie, ohne Anfang und Ende. Aus dem Summen schälen sich Worte: „Gib mir deinen Fuß zum Gruß …“
Enn unterbricht seine Hörversuche. „Die Raelon“, sagt sie. „Der Scan ist in T minus 17.“
(39/365)
Er ist nicht undankbar für die Unterbrechung: besser, als sich weiter mit dem Geheimnis zu beschäftigen, das seine Mitreisende ist.
„Das Dingi werden sie nicht finden“, sagt Enn. „Die Raelon prüfen nur, ob eine organische Einheit an Bord ist.“
„Mindestens eine?“, fragt er. Die Patience geht auf. Das Summen geht weiter.
„Nur eine“, sagt Enn.
Er zögert. „Und sonst?“
„Für mich macht es keinen Unterschied“, sagt Enn. „Sie löschen dann die Einheiten.“ Kunstpause? Neutralpause. „Also euch.“
(40/365)
Er denkt: Wenn ich sterbe, wache ich vielleicht in meiner alten Welt auf. Aber ist das ein Trost?
„Was haben wir für Optionen?“
„Es gibt einen Raumanzug. Eine Person kann darin außerhalb abwarten. Die Raelon scannen nur das Schiff“, sagt Enn.
„Ich war noch nie im All.“
„Ich stelle nicht fest, dass du sensitiv für Dunkle Materie bist.“
„Bitte?“
„Das All besteht zu 95 Prozent aus Dunkler Materie, wenn organische Einheiten dafür Sinnesorgane haben, ist es dort für sie sehr unangenehm.“
(41/365)
Ein Echo aus seiner alten Welt: Wollt ihr mich verarschen? Warum ich. Denn er weiß ja, worauf das hinausläuft: zwei Leute, ein Raumanzug. Die Frau lässt die Patience ruhen, ihr Summen ist verstummt. Kein Fuß, kein Gruß. Sie schüttelt den Kopf.
„Moment mal“, sagt er.
„Der Raumanzug passt ihr gar nicht“, sagt Enn. „Er ist auf dich zuge- …“
„Auf wessen Seite bist du eigentlich?“
„Ich bin neutral.“
Er fixiert die Frau, und in ihren Augen sieht er eine Angst, die ihm selber Angst macht.
(42/365)
Die alte Frau schiebt ihre Karten zusammen. Sie schweigt und betrachtet ihre Hände.
„Raelon-Scan in T minus 13“, sagt Enn.
Er ignoriert sie. „Na gut“, sagt er zu der Frau. „Ich ziehe diesen Raumanzug an und gehe ins All, während diese Knochenringe das Schiff scannen. Aber unter einer Bedingung.“
Sie blickt auf.
„Ich will wissen, was mit dem Toten war, der hier am Fenster vorbeigeflogen ist“, sagt er.
Die Frau überlegt. „Er hat Bedingungen gestellt“, sagt sie mit milder, weicher Stimme.
(43/365)
„Es dauert zehn Minuten, den Anzug anzulegen“, sagt Enn.
Er geht zur Schleuse. Enn erklärt ihm die einzelnen Schritte. Er hat das Gefühl, draußen besser aufgehoben zu sein, weit weg von seinem Gast. Als Enn ihm die Düsen demonstriert, gerät er in panikartige Reue. Was, wenn die alte Frau ihn nicht wieder an Bord lässt. Wenn sie mit dem Schiff abhaut, sobald der Raelon-Scan vorüber ist.
Enn registriert offenbar seinen Puls und Blutdruck.
„Ich darf den Anzug nicht verlieren“, sagt sie.
(44/365)
Die alte Frau steht jetzt hinter ihm, und er weiß nicht, ob zum Abschied, oder ob sie sichergehen will, dass er wirklich ins All steigt.
„Danke“, sagt sie. Über seine Verblüffung schließt sich sein Helm.
„Ausschleusung beginnt“, sagt Enn. „Ruhig atmen, am besten dabei zählen. Die Augen schließen im Moment des Austritts, erst öffnen, wenn ich es sage. Und eins noch.“
Er schließt die Augen. „Ja.“
„Es kommen zwei oder drei Knochenringe. Du solltest sie dir nicht zu genau anschauen.“
(45/365)
Es wird still im Helm. Als er die Augen öffnet, gibt es kein Oben und kein Unten.
„Follow your breath“, sagt Enn.
Er muss sich fast übergeben. Er schließt die Augen, es wird besser. Er spürt, wie seine Navigationsdüsen arbeiten. Ein Trost, dass der Anzug so wertvoll ist. Als er die Augen wieder öffnet, hat Enn ihn ausgerichtet, dass er das Schiff von außen sieht. Es ist groß und grau wie eine Trabantenstadt. Aus der Tiefe nähern sich zwei Ringe, als hätten sie ihren Planeten verloren.
(46/365)
Er hat keinen Maßstab, wie weit die Dinge voneinander entfernt sind. Es gibt eine Lichtquelle schräg hinter ihm, aber er hat Angst zu rotieren, wenn er sich einmal umdreht. Die Knochenringe sind größer als das Schiff, es wird durch sie hindurchpassen. Sie schimmern in einem dunklen Beige-Grau, ihre Oberfläche ist rau und ungleichmäßig, sie kreisen behutsam.
„Und sie können mich wirklich nicht sehen?“, fragt er, aber seine Stimme klingt hohl und unverstärkt. Enn hat ihn stummgeschaltet.
(47/365)
Ein leichtes Vibrieren, Enn bedient seine Düsen. Er entfernt sich vom Schiff. Wenn sie ihn jetzt doch ins Leere schießt. Das Schiff gleitet durch den ersten Knochenring, mit ein paar hundert Metern Abstand, und der Ring kommt scheinbar direkt auf ihn zu, bis die Außenseite des Knochens nur ein, zwei Armlängen von ihm entfernt ist. Reflexartig wirft er sich nach hinten, Rolle rückwärts, gemessen an eben steht er Kopf. Zum ersten Mal kann er den Namen des Schiffs lesen:
~BOTHER 898.211a~
(48/365)
Ein Wimpernschlag, und die sechsstellige Bother-Nummer verschwindet im Schatten des Raelons. Der Knochenring ist im Verhältnis zu seinem Durchmesser und Umfang dünn wie … und hier kämpft er sich durch einen inneren Morast, erfolglos, er sieht einen Reifen vor seinem inneren Auge, den jemand um die Hüften schwingt, aber das Wort entzieht sich ihm.
Der Knochenring zieht vorbei, dann der zweite, die Außenseite matt und rau, als könnte man den Fuß darauf setzen, ohne abzurutschen.
(49/365)
Der vorbeiziehende Raelon vibriert. Einen Moment denkt er, es läge an seinen Düsen, oder am Helmglas. Aber dann sieht er: Die Haut des Rings ist in Bewegung, wie eine Wasseroberfläche, mit kleinen Wellen, Kräuseln und Strudeln. Er kann den Blick kaum losreißen, es ist, als würde er etwas verstehen, wenn er lange genug hinschaut. Er fühlt sich erkannt, unwillkürlich wendet er sich ab. Das All hat keine optische Tiefe, es ist erdrückend.
„Wir haben an Bord eine Situation“, sagt Enn.
(50/365)
Er ist dankbar für die Ablenkung. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie das Schiff durch den zweiten Raelon gleitet.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragt er.
„Deine Passagierin versucht, mich zu löschen“, sagt Enn.
„Meine Passagierin.“
„Mit sehr primitiven Mitteln. Ich werde es überstehen. Aber es nimmt mich nicht für sie ein.“
„Wie lange muss ich noch hier draußen bleiben?“
„Die Raelon senden ihr Scan-Ergebnis in ein bis zwei Stunden.“
Er stöhnt.
„Und dann noch die Quarantäne.“
(51/365)
„Quarantäne?“
„Sechs Stunden in der Zwischenstation, während ich auf Zeichen von Strahlenkrankheit und Reaktionen auf Dunkle Materie bei dir warte“, sagt Enn, als hätte niemand es so schwer wie sie.
„Und wenn ich Anzeichen …“
„Du kannst die Zeit nutzen, dir zu überlegen, was wir mit deiner Passagierin machen.“
„Spricht sie mit dir?“
„Nein. Aber sie spricht mit sich selbst. Sie singt Kinderlieder und sagt Zahlen.“
„Bedeuten die Zahlen etwas?“
Enn zögert. „Das darf ich nicht sagen.“
(52/365)
„Du darfst mir nicht sagen, was die Zahlen bedeuten? Ich denke, du bist neutral.“ Vielleicht will Enn ihn nur davon ablenken, dass er gerade außerirdische Lebewesen gesehen hat. Oder davon, dass er noch Stunden im All driften wird.
„Ich bin neutral innerhalb von Regeln“, sagt Enn.
„Nenn mir eine der Zahlen.“
„Sie ändern sich ständig.“
„Nehmen sie zu oder ab?“
Kurze Pause. „Ab.“
Ein Countdown. Womöglich sprengt die Passagierin das Schiff, und er bleibt für immer allein hier draußen.
(53/365)
„Die Zahlen klingen nicht nach Countdown“, sagt Enn. „Sie verwendet Dezimalstellen.“
Er hört kaum zu, denn hinterm Schiff schließt der zweite Raelon-Ring zum ersten auf, sie verbinden sich zu einem breiteren Band. Tausende Raelon wären ein Tunnel. Dann sind sie verschwunden, die Schwärze des Alls vibriert nach.
„Magic“, sagt Enn. „Also, überlegene Technologie.“
Er hat Angst, wegzudriften. Wie weit ist er vom Schiff? 200 Meter? 150?
„Die Passagierin misst eine Entfernung“, sagt er.
(54/365)
Enn muss ihn gehört haben, aber sie antwortet nicht.
„Wohin reisen wir?“, fragt er.
„Entlang einer Raelon-Handelslinie“, sagt Enn, hörbar erleichtert, dass er nicht weiterverfolgt, welche Entfernung die Passagierin zählt.
„Ich weiß.“ Nicht mehr lange, und Enn wird ihm auf die Nerven gehen. „Aber was ist unser Ziel?“
„Der Weg ist …“
„Wo endet unsere Reise?“
Rauschen. „Am Beginn der nächsten Route.“
Er stöhnt. Kurz fragt er sich, ob er nicht lieber einfach hier im All bleiben würde.
(55/365)
Es ist sinnlos, Enn nach dem Ziel der Raelon-Route zu fragen. Das Rauschen klingt, als würde sie auf seine Reaktion warten. Er mag ihr den Gefallen nicht tun. Er seufzt und schließt die Augen.
Als er sie wieder öffnet, fühlt es sich an, als würde er ins All stürzen, statt darin zu schweben. Er schließt die Augen wieder und merkt dankbar, wie müde er ist.
Zum ersten Mal, seit er hier ist, schläft er bewusst ein, und etwas Wunderbares scheint zu passieren. Ein Licht, ein anderer Ort.
(56/365)
Seine Sehnsucht ist so groß, nach diesem Licht und diesem Ort, dass er augenblicklich wach wird. Geplagt von einer Nostalgie nach er-weiß-nicht-was.
Er atmet schwer und flach zugleich.
„Alles in Ordnung?“, fragt Enn. „Ich lese hier deine vital signs …“ Erübrigt sich die Frage dann nicht?
Er muss hier raus. Genauer: Er muss hier weg.
In der Klarheit des Moments sieht er Strahlungsblitze an seinem Anzug und dem Helmvisier, kosmische Partikel, die ihn durchqueren.
„Alles ok“, sagt er.
(57/365)
Die Klarheit tut gut. Zwar weiß er nicht, wie er hier wegkommen soll. Aber allein die Gewissheit, dass er es hier nicht ewig aushalten kann, ist tröstlich: wenn es nicht geht, bleibt ihm nichts übrig, als einen Weg zu finden.
Er fühlt sich leicht.
„Ich sehe, es geht dir besser“, sagt Enn. „Während wir auf das Scan-Ergebnis warten, könntest du die Außenhaut des Schiffs auf Schlagschäden untersuchen.“
Er betrachtet die graue Oberfläche des Schiffs unverwandt. „Kein Interesse“, sagt er.
(58/365)
Enn schweigt neutral. Er ahnt, dass sie ihn mit dem Auftrag nur beschäftigen wollte. Wenn sie keine Sensoren hat, um die Schiffshaut zu überprüfen, ist eh alles verloren.
„Wie geht es der Passagierin?“, fragt er.
„Sie schläft“, sagt Enn.
„Wo?“
„In deinem Bett. Unter deiner Decke.“
Er ist empört und findet keine Worte.
„Ich sehe, dass du dich aufregst. Aber ich habe nur ein Bett und eine Decke.“
„Warum schonst du sie, wenn sie dich löschen wollte?“
„Ich bin nicht nachtragend“, sagt Enn.
(59/365)
Er denkt an sein Bett und an die Wolldecke.
„Woher kommt die Wolle?“, fragt er. „Für die Decke.“
Enn hat ihm nach seiner Ankunft gesagt, das organische Material Schafwolle absorbiere die kosmische Strahlung. „Von Schafen“, sagt sie geduldig.
„Wo leben die Schafe?“, fragt er.
„Auf erdähnlichen Planeten“, sagt Enn. Er vermutet, dass ihr vor lauter Neutralität fast die Sicherungen rausfliegen. „Und auf der Erde“, schiebt sie nach.
„Wie weit“, fragt er, „sind wir von der Erde entfernt?“